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AutorenbildAntje Reichert

Gewaltfrei auf Stelzen!?



Ich (Antje) bin auf dem Weg zur Zertifizierung als Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation (CNVC). Dabei geht es nicht (nur) um das allmähliche Hineinwachsen in eine Haltung der Gewaltfreiheit sondern auch um den Aufbau einer Gemeinschaft von Trainerinnen und Trainern, die mit dem CNVC zusammen daran arbeiten, die Vision von einer Welt Wirklichkeit werden zu lassen, in der die Bedürfnisse aller zählen. Der Austausch mit WeggefährtInnen und der Aufbau und die Pflege eines ehrlichen und empathischen Netzwerks sind dabei unverzichtbar. Dazu zählt z.B. auch der regelmäßige Besuch einer Übungsgruppe, die Zugehörigkeit zu einem lokalen Netzwerk, zu einer DACH-Gruppe, einer GFK-Wohngemeinschaft, die Teilnahme an TrainerInnentreffen, Intervisionsgruppen mit regelmäßigen Treffen, …


Heute Abend war wieder einer dieser Termine - online - und während ich (noch gemeinsam mit meinem Sohn) darauf wartete, dass der Online-Raum sich füllte, fragte er mich: „Mama? Sprechen die alle Giraffensprache?“. Ich antwortete: „Ja, klar!“. Woraufhin er entgegnete: „Können die auch normal sprechen?“ und er traf damit in seiner kindlichen Weisheit einen so wichtigen Kern, der mich in der Tat gerade sehr beschäftigt. Markus Fischer differenzierte in „gewaltfrei auf Stelzen“ oder „bodenständig“ und ja, es ist auch für mich eine Form von „straßengiraffisch“, die letztlich dafür sorgt ob ich nicht nur bedürfnisorientiert und empathisch sondern auch authentisch auftrete. Weil es natürlich NICHT darum geht, ein besonders großes Repertoire an Gefühls- und Bedürfniswörtern ad hoc benennen zu können. Weil sich Beziehungen, die auf Ehrlichkeit und Empathie beruhen eben nicht besser herstellen und pflegen lassen wenn ich die Kriterien zur Formulierung handlungsorientierter Bitten auch herbeten kann wenn man mich nachts aus dem Tiefschlaf reißt. Die gut gemeinte Anwendung der GFK kann ziemlich daneben gehen und für Trennung sorgen, statt zu mehr Verständigung und Mitgefühl.


Das Hineinwachsen in die Haltung der Gewaltfreiheit ist für mich ein ganz wundervoller und gleichzeitig dennoch sehr holpriger Weg. Wenn ich an die Anfänge der Freundschaft zu Steffen denke - in der von Anfang an die GFK eine essentielle Rolle spielte - so bekomme ich heute noch graue Haare wenn ich alte Nachrichten von uns lese oder Sprachnachrichten höre. Da gab es wirklich gruselige Gänsehautmomente, denn die gut gemeinte Anwendung der GFK war damals definitiv nicht bodenständig oder straßentauglich. Und dennoch war für beide Seiten der gute Wille erkennbar und auch „gewaltfrei auf Stelzen“ sorgte unter diesen Umständen für Verbindung und einen nährenden Austausch. Heute feiere ich, dass nicht nur diese Phase unserer Freundschaft hinter uns liegt sondern wir auch das weitere Hineinwachsen in die Haltung der GFK teilen.


Was wir als Sender oder Empfänger als „gewaltfrei auf Stelzen“ oder eben als „bodenständig“ oder „straßengiraffisch“ empfinden ist individuell so unterschiedlich und variiert nicht nur in Bezug auf unser Gegenüber sondern auch von Moment zu Moment. So ist mir persönlich durchaus geläufig, dass ich in der gut gemeinten Nachfrage: „Was brauchst Du?“ höre: „Was brauchst Du, um meiner Strategie zuzustimmen?“ und das bringt mich gehörig auf die Palme und regt erheblichen Widerstand in mir.


„Was brauchst Du, um glücklich zu sein?“ habe ich dann direkt noch während dem Schreiben dieses Textest meinen fünfjährigen Sohn gefragt. „Lego“ war die sehr spontane und offenbar sehr durchdachte Antwort denn es folgten ausschweifende Ausführungen welche Sets und Figuren denn ganz genau auf seiner (gedanklichen) Wunschliste stehen und wie ich die Erfüllung dieser zahlreichen Wünsche auf Weihnachten, Geburtstag, Ostern und den nächsten Kindertag verteilen könnte. Und wie geht es mir als sehr bewusst konsumierende Mutter mit Giraffenohren wenn das eigene Kind Schritt 3 von 4 einfach „links liegen lässt“ und ich derartig klare Handlungsbitten von meinem Sohn höre? Ich schmunzle, frage neugierig nach, spüre keinen Widerstand und stattdessen einen offenherzigen Fluss des Gebens und Nehmens. Schließlich putze ich ihm die Zähne und bringe ihn ins Bett.

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